Vortrag, gehalten auf der 15. Tonmeistertagung 1988 zuletzt die Lokalisation.
Der erste Aufsatz dieser Sammlung war ursprünglich für Musiker gedacht, stieß aber auch bei Tonmeistern auf reges Interesse. Daher wurde der folgende Artikel mit der Absicht geschrieben, die Thematik zu vertiefen. Wesentliche Zusammenhänge werden wiederholt und genauer beschrieben.
Drei wichtige Beurteilungskriterien stereofoner Aufnahmen sind: der Gesamteindruck, die Räumlichkeit und die Lokalisation. Anhand dieser Parameter werden Theorien verschiedener Wissenschaftler zusammengefasst.
Einleitung
Die Zahl interessanter Veröffentlichungen zum Thema „Stereofone Aufnahmetechnik“ hat in den letzten Jahren bemerkenswert zugenommen /1/ bis /9/.
Die meisten Berichte gehen von der Verwendung von nur zwei Mikrofonen aus, beschreiben also die Verhältnisse des so genannten Stereo-Hauptmikrofonverfahrens, wie es vor allem im Bereich klassischer Musik Einsatz findet. Wie schon der Name sagt, ist das Stereo-Hauptmikrofon von fundamentaler Bedeutung. Andere Techniken, die ohne Stereo-Hauptmikrofon arbeiten, bedürfen einer separaten Beschreibung.
Die Möglichkeit, mit Stützmikrofonen ins lnterpretatorische einzugreifen, freut natürlich den Tonmeister und meist auch Musiker und Konsumenten, aber es ist sicher, dass unterschiedliche Hörgewohnheiten zu verschiedenen Beurteilungen führen /5/. Über die ästhetischen Gesichtspunkte lässt sich ein eigenes Referat halten und ein Streit über geschmackliche Fragen ist nicht sinnvoll.
Der Tonmeister muss aber eventuell schon aus geschäftlichem Interesse wissen, dass besonders die anspruchsvollen Käufer im so genannten Hi-End-Bereich allergisch auf allzu erkennbare Stützmikrofone reagieren. Manche beharren sogar auf der Behauptung, dass nur mit zwei Mikrofonen natürliche Tonaufnahmen möglich sind. So unmöglich dies in vielen Fällen ist /11/, lässt sich dieser Kundenwunsch doch besonders bei kleineren Ensembles realisieren. Das Stereo-Hauptmikrofon verdient also bestimmt nach wie vor besondere Aufmerksamkeit.
Die eingangs erwähnten internationalen Veröffentlichungen dazu stammen von verschiedenen Autoren, die unabhängig voneinander ihre Theorien entwickelt haben. So ist es nicht verwunderlich, dass die Ansätze der Betrachtungen sehr unterschiedlich sind. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, einige wesentliche Aussagen dieser verschiedenen Ansätze zu bündeln, ohne den Leser durch Unterschiede im Detail zu irritieren.
Die Gliederung entspricht der Reihenfolge der Kriterien der Herren Nellessen, Prager und Wöhr /5/,/7/. Diese Reihenfolge beginnt mit dem Gesamteindruck einer Aufnahme, betrachtet dann die Räumlichkeit und der Gesamteindruck ist am schwersten zu erklären, da er Details enthält, die nicht immer einer genauen Analyse zugänglich sind. Ganz sicher spielt hier aber der Klang eine Rolle, der von der Qualität der Mikrofone geprägt ist.
Dieses Thema wird vermutlich nie ganz abgeschlossen werden, da subjektive Beurteilungskriterien einen besonders starken Einfluss haben. Dennoch ist eine grobe Klassifizierung möglich. Man könnte zunächst Mikrofone mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Eigenklang (Sound) und Mikrofone mit neutralem, natürlichem Übertragungsverhalten unterscheiden.
Der Übergang zwischen ausgeprägtem Eigenklang und neutralem Übertragungsverhalten ist kontinuierlich, aber es ist allgemein gültig, dass besonders dynamische Mikrofone und große Mikrofone zu einem “Sound-Charakter” tendieren. Der Tonmeister kann diese Eigenschaft gezielt nutzen, indem er klangliche Eigenarten eines Instruments bewusst verstärkt. Im Endeffekt läuft diese Philosophie aber darauf hinaus, dass man für jedes Instrument ein spezielles Mikrofon braucht, das dann schlimmstenfalls auch nur dafür geeignet ist.
Neutral klingende Mikrofone sind hingegen für die Aufnahme aller Schallquellen geeignet. Nur mit ihnen lässt sich das Ziel natürlich klingender Aufnahmen realisieren. Das Klangbild kann dennoch in einem relativ großen Rahmen variieren, weil die prinzipbedingt unterschiedliche Aufnahme von direktem und reflektiertem Schall, der Nahheitseffekt und andere physikalische Grundlagen Einfluss haben.
Ein verfärbungsfrei aufnehmendes Mikrofon, das nicht die Grenzflächentechnik nutzt, muss so klein wie möglich sein, um das Schallfeld nicht zu stören.
Das qualitative Verhalten kleiner Kondensatormikrofone, die mit dem Ziel naturgetreuer Übertragung entwickelt wurden, geht aus Tab. 1 hervor. Bemerkenswert ist z.B. der Gewinn an Tiefbass-Aufnahme, wenn Druckempfänger verwendet werden. Eine andere Besonderheit ist, dass zylindrische Nierenmikrofone mit frontalem Schalleinfall zu einer leichten Betonung der Höhen bei schrägem Schalleinfall und daher auch im diffusen Schallfeld neigen. Letzteres kann durchaus vorteilhaft sein, so z.B. beim ORTF-Stereomikrofon, das üblicherweise so aufgestellt wird, dass ein erheblicher Teil diffusen Schalls aufgenommen wird. Wenn dieser – wie es nicht selten der Fall ist – etwas dumpf klingt, wird er durch ein Mikrofon mit leichter Überhöhung des Frequenzgangs im diffusen Schallfeld aufgehellt. Bei Verwendung nahe an einer Streichergruppe können Nieren aus gleichem Grund aber sehr brillant oder sogar scharf klingen.
Die Breite Niere ist ein Mikrofon, das so gebaut werden kann, dass bei ihm der Frequenzgang weitgehend unabhängig wird von der Schalleinfallsrichtung. Damit sind dann auch die Frequenzgänge im freien und im diffusen Schallfeld, abgesehen von einem Pegelunterschied, praktisch gleich.
Die Räumlichkeit
Zum räumlichen Hören gibt es eine genaue Beschreibung /12/. Bei der stereofonen Wiedergabe wird der Entfernungseindruck u.a. vom Anteil und Spektrum des reflektierten bzw. diffusen Schalls beeinflusst. Für den Eindruck plastischer Räumlichkeit ist es aber wichtig, dass die aus dem diffusen Schallfeld aufgenommenen Anteile in beiden Kanälen nicht zu stark miteinander korreliert sind.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, wie unterschiedlich Mikrofone mit verschiedenen Richtcharakteristiken das diffuse Schallfeld aufnehmen. Eine Kugel nimmt das diffuse Schallfeld theoretisch mit der gleichen Empfindlichkeit auf wie das direkte. In der Praxis stimmt dies bei höheren Frequenzen meist nicht mehr (abhängig von der Größe des Mikrofons) und man braucht deshalb die verschiedenen Typen wie Freifeld- oder Diffusfeldkugel.
Ein Mikrofon mit der Richtcharakteristik „Acht“ nimmt den diffusen Schall in Relation zum direkten Schall mit 4,8dB geringerer Empfindlichkeit auf. (Bündelungsmaß, siehe Aufsatz 11). Seine Membranbewegung ist proportional zur Schnelle des Schalls. Da die Schnelle ein Vektor ist, also eine Richtung hat, nimmt die Acht bevorzugt Schall in der Hauptachsenrichtung des Mikrofons auf.
Eine Niere darf man sich immer als eine Kombination aus Kugel und Acht zu gleichen Anteilen vorstellen.
Bei einem koinzidenten Stereomikrofon wird die Pegeldifferenz zwischen linkem und rechtem Kanal ausschließlich durch die Komponente der Acht in beiden Kapseln bewirkt. Bei Verwendung von zwei Nieren übertragen aber die Kugel-Komponenten der Kapseln das diffuse Schallfeld zu immerhin 50% in gleicher Weise. Dadurch werden 50% des diffusen Schalls quasi in Mono wiedergegeben. Bereits 1984 hat Theile auf der 13. Tonmeistertagung damit erklärt, weshalb lntensitätsstereofonie nur eine schwache Räumlichkeit ergibt /3/. Gleichzeitig gibt es eine künstliche Betonung der Mittenlokalisation, die nur in Ausnahmefällen erwünscht sein kann, z.B. Soloaufnahmen, stereofonen Stützen, Bildproduktionen usw.
Mehr Räumlichkeit lässt sich erreichen, wenn durch Verwendung von Super- oder Hypernieren oder letztendlich Mikrofonen mit Acht-Charakteristik nur wenig oder gar keine Druckkomponente im Membranantrieb enthalten ist.
Damit erklärt sich u.a. auch die mitunter etwas bessere Beurteilung der MS-Aufnahmetechnik bezüglich er Räumlichkeit. Nur im Sonderfall einer Kugel für den M-Kanal kann die Matrizierung nämlich Nieren ergeben, die dann aber immer einen virtuellen Hauptachsenwinkel von 180° haben. In allen anderen Fällen, bei denen für den M-Kanal eine gerichtete Kapsel verwendet wird, ergeben sich in Abhängigkeit vom Mischungsverhältnis M:S der Matrizierung virtuelle Richtdiagramme mit einer rückwärtigen Empfindlichkeitskeule, also Polardiagramme wie Super- oder Hypernieren.
Eine andere Möglichkeit, Räumlichkeit in eine Aufnahme zu bringen, ergibt sich durch eine Dekorrelation der Raumanteile durch einen Abstand zwischen den Mikrofonen. Man muss dazu nicht gleich zur AB-Technik übergehen. Das ORTF-Mikrofon, das Kugelflächenmikrofon und andere Formen der Trennkörperstereofonie ergeben meist einen schönen Räumlichkeitseindruck, einen guten Aufnahmeraum vorausgesetzt (siehe Aufsatz 1).
Die oft strapazierte Mono-Kompatibilität hält besonders beim ORTF-Mikrofon auch kritischen Betrachtungen stand. Bei tiefen Frequenzen, bei denen große Phasenunterschiede Probleme verursachen können, ist der Phasenunterschied nur gering, und bei hohen Frequenzen ist es nicht mehr der Phasen- bzw. Laufzeitunterschied, sondern der Pegelunterschied, der für die Stereo-Lokalisation entscheidend ist.
Die Lokalisation
Die Überbetonung der Lokalisation von Schall in der Mitte durch die XY-Technik mit Nieren spielt natürlich eine geringere Rolle, wenn der diffuse Schallanteil gering ist oder wenn Richtungsinformationen durch Stützmikrofone hinzukommen.
Die meisten Berichte zum Thema „stereofones Hauptmikrofon“ konzentrieren sich auf die mögliche Lokalisation von Phantomschallquellen. Dabei ist fraglich, ob diesem Merkmal auch in der Praxis eine derart dominierende Bedeutung zugemessen werden darf. Eine kräftige Basswiedergabe oder ein prächtiger Raumklang erzielen oft einen größeren Effekt bei den Zuhörern. Außerdem ist es erschreckend, zu beobachten, mit welcher Sorglosigkeit manchmal der Hörplatz gewählt wird. Es muss immer wieder daran erinnert werden, dass die Symmetrie der Aufstellung, die Gleichheit der Lautsprecher, der Abstand und besonders der richtige Hörort entscheidend auf die Lokalisationsmöglichkeiten bei der Wiedergabe einwirken. Dabei wäre es ein Thema für sich, die Verträglichkeit mangelhafter Abhörverhältnisse in Abhängigkeit vom Aufnahmeverfahren zu untersuchen.
Unabhängig von der Art des Stereo-Hauptmikrofonverfahrens stellen die Williams-Diagramme eine besondere Hilfe bei der optimalen Mikrofonaufstellung dar /13/. Sie beschreiben notwendige geometrische Bedingungen für das Stereo-Hauptmikrofonverfahren, die sich aus dem vom Tonmeister gewählten Aufstellungsort, der Richtcharakteristik der Mikrofone und der menschlichen Hörphysiologie ergeben.
Williams hat seine Überlegungen bereits in den frühen 80er Jahren in Paris bekanntgemacht. Man kann dies nachlesen unter www.mmad.info (besonders zu empfehlen: preprint 2466). Dickreiter hat basierend auf den Williams-Diagrammen sein „Tonmeister Survival Kit“ entwickelt /15/
Davon völlig unabhängig, verfolgte Sengpiel ähnliche Gedanken und unterrichtet darüber an der UdK in Berlin /14/ (z.B. : www.sengpielaudio.com/TheorieGrundlaAequivalenz.pdf). Sengpiel legt etwas längere Zeitdifferenzen Δt als Lokalisationsparameter zugrunde. Außerdem vermeidet er, von ΔI (Intensitätsdifferenz) zu sprechen, da die Intensität physikalisch das Produkt aus Schalldruck p und Schallschnelle v ist. Es ist zweifellos besser, von einer Pegeldifferenz ΔL zu sprechen.
Theile/Wittek haben die Thematik „Aufnahmewinkel“ ebenfalls eingehend bearbeitet.(Helmut Wittek: www.hauptmikrofon.de/ima2-folder/ImageAssistant2.html)
Der „Image Assistant“ beantwortet interaktiv im Netz, wie die stereofone Abbildung von Mikrofonanordnungen aussieht.
Der Toningenieur, der den Aufstellungsort eines stereofonen Mikrofonpaars – z.B. nach Gesichtspunkten der Hallbalance – bestimmt, wünscht in der Regel, dass alle Schallquellen der Originaldarbietung in die Basis der stereofonen Lautsprecherwiedergabe projiziert werden. Wenn also die volle Stereobasis genutzt werden soll, muss das am weitesten links oder rechts platzierte Instrument eines Orchesters bei der Wiedergabe extrem links oder rechts lokalisiert werden. Das sind die Positionen der jeweiligen Lautsprecher bei γ = ± 30°.
Der „Aufnahmebereich“ 2α soll bei der Lautsprecherwiedergabe in den „Wiedergabebereich“ 2γmax= 60° übertragen werden. Daraus ergeben sich nach Williams der Hauptachsenwinkel 2β und der Abstand d zwischen den beiden Mikrofonen (Mikrofonbasis). Wenn einer dieser Parameter vorgegeben ist, folgt daraus der andere.
Dazu sind Pegel- und/oder Laufzeitunterschiede erforderlich, die nicht größer und nicht kleiner als notwendig sein dürfen. Eine Mikrofonanordnung mit größeren Kanalunterschieden würde z.B. keine weitere Verlagerung der außen liegenden Schallquellen bewirken, aber weiter zur Mitte hin gelegene Schallquellen würden dann immer noch genügend Pegel- bzw. Laufzeitunterschiede ergeben, um ebenfalls extrem links oder rechts geortet zu werden. Es kommt zu einer links/rechts-Anhäufung von Schallquellen (“Pingpong-Stereo”).
Welche Pegel- und/oder Laufzeitunterschiede erforderlich sind, um musikähnliche Signale aus verschiedenen Richtungen zwischen den Lautsprechern zu lokalisieren, ist aus hörphysiologischen Versuchen bekannt /16/ (Abb. 2). Andererseits kann man für jedes tereofone Hauptmikrofonverfahren die Pegel- und Laufzeitunterschiede, die sich für Schall aus verschiedenen Richtungen ergeben, exakt in Abhängigkeit von Richtcharakteristik, Winkel zwischen den Hauptachsen und Abstand zwischen den Mikrofonen berechnen.
So lassen sich für jeden Aufnahmewinkel, der vom Stereomikrofon aus gesehen - das Orchester einschließt (2α, Abb. 1a), Winkel und Abstand zweier Mikrofone derart ermitteln, dass nur die außen liegenden Schallquellen bei γ= ± 30° der Lautsprecheranordnung lokalisiert werden. Die anderen Schallquellen erscheinen dann, dem Original entsprechend, z.B. 2/3 oder 1/3 rechts bzw. links (γ= ± 20°, ± 10°, Abb. 1b). Die Genauigkeit dieser Transformation lässt sich berechnen, wenn die Polardiagramme exakt ihren mathematischen Formeln entsprechen (a + b cosφ), wie dies bei Kleinmembranmikrofonen möglich ist. Sie hängt von der gewählten Kombination von Hauptachsenwinkel 2β und Abstand d ab. Maßstäbliche Abweichungen werden als „Lokalisationsverzeichnung“ bezeichnet.
Um einem „Aufnahmewinkel“ von z.B. α= ± 70°, also insgesamt 140° zu entsprechen, müssen bei einem koinzidenten Stereomikrofon mit zwei Nieren die Kapseln in einem Winkel von 120° zueinander eingestellt werden (halber Hauptachsenwinkel β= 60°). Bei 20cm Mikrofonbasis müssen für den gleichen “Aufnahmewinkel” nur 50° zwischen deren Hauptachsen liegen (halber Hauptachsenwinkel β= 25°, s. Abb. 3).
Interessant ist es umgekehrt auch, den Aufnahmewinkel bekannter Anordnungen zu ermitteln. Für ein lntensitäts-Stereomikrofon, bei dem zwei Nieren im Winkel von 90° zueinander eingestellt sind, lässt sich ein Aufnahmewinkel von ± 90°, also insgesamt vollen 180°, aus Abb. 3 ablesen. Das Mikrofon müsste deshalb sehr weit vorne stehen, praktisch auf Höhe des Dirigenten. Wenn dies nicht der Fall wäre, würden sich keine genügenden Links/Rechts-Differenzen ergeben, um Schallquellen ganz links oder rechts bei der Wiedergabe zu orten. Nicht aufeinander abgestimmter Hauptachsenwinkel und Aufstellungsort können also auch eine Erklärung dafür sein, wenn XY eine zu betonte Mittenlokalisation bringt.
Der Aufnahmewinkel eines stereofonen Hauptmikrofons lässt sich auch experimentell ermitteln. Dazu bewegt man eine Schallquelle von der Mitte des Stereomikrofons aus nach links oder rechts, bis deren Lokalisation bei der Wiedergabe in Richtung des linken bzw. rechten Lautsprechers erfolgt. Diese Richtungen schließen mit dem Mikrofon den Aufnahmewinkel 2α ein.
Zum Umgang mit dem Hauptachsenwinkel und dem Aufnahmewinkel soll hier darauf hingewiesen werden, dass die Zahlenwerte oft nur als Hälfte des Gesamtwinkels angegeben werden. Zu erklären ist dies natürlich durch die Symmetrie dieser Winkel zur stereofonen Hauptachse. Dennoch löst die ±-Angabe manchmal auch Unsicherheiten aus. Der “Winkel zwischen den Mikrofonachsen” ist z.B. der Gesamtwinkel 2β, während der Zahlenwert von α nur den halben Aufnahmewinkel angibt.
Der Aufnahmewinkel nach Williams ist leider ein anderer als der, der im Zusammenhang mit der MS-Aufnahmetechnik betrachtet werden muss. Der Aufnahmewinkel der MS-Technik ergibt sich daraus, dass das M-Signal für keinen Schalleinfallswinkel kleiner sein darf als das S-Signal (siehe Aufsatz 4) /17/.
Der einzige Hinweis, ob eine koinzidente Technik oder ein AB-Verfahren vorzuziehen ist, ergibt sich bei Williams aus der Angabe der “Lokalisationsverzeichnung”. Sie ist bei mittleren Kapselabständen am geringsten.
Aus anderer Perspektive hat Theile bereits auf der 13. Tonmeistertagung für „Äquivalenz-Stereomikrofone“ plädiert /3/, bei denen definitionsgemäß auch ein Abstand zwischen den Mikrofonen besteht. Er soll aber nicht viel größer als Ohrenabstand sein. Gemäß Williams kann er dagegen – je nach Richtcharakteristik und Aufnahmewinkel – sogar 50cm noch überschreiten. Falls Mikrofone mit Kugelcharakteristik so weit entfernt vom Orchester aufgestellt werden, dass ein Aufnahmewinkel von nur ± 30° benötigt wird, müsste der Mikrofonabstand 76cm betragen. (Weitere Angaben zu der notwendigen Mikrofonbasis bei AB-Aufnahmetechnik finden sich in Aufsatz 3).
Für den Fall besonders großer Abstände zwischen den Mikrofonen gibt es schwer anfechtbare Kritik /18/. Man kann nur entgegenhalten, dass Lokalisation und empfundene Räumlichkeit gegenläufig sind (Aufsatz 1) und dass es Aufnahmen gibt, die keine Lokalisation, aber viel räumliche Tiefe verlangen. So rechtfertigen sich Kapselabstände bzw. AB-Technik, wie sie sowieso erforderlich sind, wenn man von der guten Tiefbasswiedergabe mittels Kondensatormikrofonen mit Kugelcharakteristik profitieren möchte. Umgekehrt kann die mittenbetonte Lokalisation von rein koinzidenten Aufnahmen, also mit so genannten „lntensitäts“-Stereomikrofonen, sehr sinnvoll sein, wenn es sich beispielsweise um die Aufnahme eines Einzelinstruments handelt oder um den Ton für Film- oder Fernsehproduktionen.
Die Beurteilung von Stereo-Hauptmikrofonverfahren, deren Kapseln etwa 5cm bis maximal 30cm voneinander entfernt sind, wurde übrigens auch von anderen Autoren und unter verschiedenen Denkansätzen positiv beschrieben /19/, /20/, /21/. Ernste Mono-Kompatibilitätsprobleme treten in der Praxis nicht auf.
Zur genaueren Beschreibung der Lokalisation gehören die Begriffe Richtungsstabilität und Lokalisationsschärfe. In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Griesinger interessant /22/. Es geht ihm besonders um die Frequenzabhängigkeit der Lokalisation. Bei tiefen Frequenzen sind größere Pegelunterschiede zur Richtungslokalisation notwendig als bei hohen Frequenzen. Damit lassen sich auch tiefe Frequenzen orten, und zwar an der gleichen Stelle wie die Harmonischen der Schallquelle. Dadurch wird die Lokalisationsschärfe verbessert.
Um bei tiefen Frequenzen eine höhere Kanaltrennung zu erzielen, kann man sich eines Verfahrens bedienen, das als “Shuffling” bezeichnet wird /23/, /24/. Vereinfacht kann man dieses als eine frequenzabhängige MS-Matrizierung bezeichnen, durch die die Basisbreite (width) bei tiefen Frequenzen größer wird als bei hohen Frequenzen (siehe auch Aufsatz 4).
Als weiterführende Literatur können folgende oben bereits genannte Veröffentlichungen empfohlen werden.
Literaturverzeichnis:
- G. Steinke, Entwicklungstendenzen der Stereofonie, in: Bericht zur 13. Tonmeistertagung 1984, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 137 - 157
- G. Plenge, Überlegungen zur Stabilität und Leistungsfähigkeit verschiedener stereofoner Übertragungsverfahren, in: Bericht zur 13. Tonmeistertagung 1984, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 158 - 169
- G. Theile, Hauptmikrofon und Stützmikrofone – neue Gesichtspunkte für ein bewährtes Aufnahmeverfahren, in: Bericht zur 13. Tonmeistertagung 1984, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 170 - 184
- W. Zahn und H. Püllmanns, Neue Erfahrungen, Ergebnisse und Erläuterungen zu laufzeitstereofonen Aufnahmetechniken unter Verwendung von Druckempfängern, in: Bericht zur 13. Tonmeistertagung 1984, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 186 - 196
- M. Wöhr und B. Nellessen, Untersuchungen zur Wahl des Hauptmikrofonverfahrens, in: Bericht zur 14. Tonmeistertagung 1986, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 106 - 120
- D. Griesinger, Neue Perspektiven für koinzidente und quasi-koinzidente Mikrofonverfahren, in: Bericht zur 14. Tonmeistertagung 1986, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 122 - 134
- T. Prager und G. Theile, Einfluss verschiedener Wiedergabeeinrichtungen auf die Beurteilung von Hauptmikrofonverfahren, in: Bericht zur 14. Tonmeistertagung 1986, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 234 - 246
- AES, An Anthology of Reprinted Articles on Stereophonic Techniques, Audio Engineering Society lnc., New York, 1982
- S. Bech und O.J. Pedersen (Hrsg.), Perception of Reproduced Sound, Gammel Avernæs, Kopenhagen, 1987
- I. Harden, Klang und Form – Schallplattenkritische Anmerkungen zur Aufnahmetechnik, in: Bericht zur 13. Tonmeistertagung 1984, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 45
- O.E. Wohlert, Binär ad absurdum, in: Hi-Fi Stereophonie, Heft 7, 1983, S. 688
- J. Blauert, Räumliches Hören, S. Hirzel Verlag Stuttgart, 1974
- M. Williams, AES Publication European Representative, Unified Theory of Microphone Systems for Stereophonic Sound Recording, AES preprint 2466 (H-6), 1987, http://www.mmad.info
- E. Sengpiel, Blätter zu den Vorlesungen “Musikübertragung” an der UdK Berlin, seit 1990
- M. Dickreiter, Tonmeister Survival Kit, 1990, Michael Dickreiter, 90453 Nürnberg, Auf der Schanz 12
- G. Simonsen, Master’s Thesis, Lyngby, Denmark, 1984
- M. Dickreiter, Mikrofon-Aufnahmetechnik, S. Hirzel Verlag Stuttgart, 1984, 2. Auflage, neu bearbeitet und erweitert 1995
- S.P. Lipshitz, University of Waterloo, Ontario, Canada, Stereo Microphone Techniques: Are the Purists Wrong?, AES preprint 2261 (D-5) oder J. Audio Eng. Soc., Vol. 34, no. 9, 1986
- A. Laracine, Institut National d’Audiovisuel, Thèse, 1966
- C. Ceoen, Comparative Stereophonic Listening Tests, J. Audio Eng. Soc., Vol. 20, 1972, S. 19 - 27
- Ch. Hugonnet et J. Jouhaneau, Comparative Spatial Transfer Function of Six Different Stereophonic Systems, AES preprint 2465 (H-5), 1987
- D. Griesinger, Neue Perspektiven für koinzidente und quasi-koinzidente Mikrofonverfahren, in: Bericht zur 14. Tonmeistertagung 1986, Bildungswerk des Verbands Deutscher Tonmeister, S. 122 - 134
- M. Gerzon, Stereo Shuffling, New Approach – Old Technique, Studio Sound, July 1986, S. 122 ff.
- T. McCormick, An LF Phase Shuffler, Studio Sound, March 1986, S. 76 ff.